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Gorda im Rotlichtviertel

Autorenbild: CoraCora

Die Fahrt mit der Fähre dauert anderthalb Stunden. Man hat vom Passagier*innendeck eine wunderschöne Aussicht auf das Meer und ein paar kleine Inseln, an denen man vorbeigleitet. Schon bald kommt das andere Ufer in Sicht und wir erkennen die lange Landzunge, auf der Puntarenas gebaut geworden ist. Da die Stadt nicht besonders schön ist und für uns nichts zu offerieren hat, dient sie auf unserem Weg lediglich als Andockstelle für das Schiff. Von der Fähre aus fehlen uns zwei Stunden bis zur Küstenstadt Jaco. Eigentlich wollten wir Jaco auf alle Fälle vermeiden, da ihr Ruf als hässliche Partystätte, die die Heimat unzähliger Drogenabhängiger und Prostituierter darstellt, leider der Wahrheit entspricht. Von dort aus gibt es allerdings einen stündlichen Bus nach Alajuela. Um Gorda ein wenig zu schonen und nicht mit der Problematik der Parkplatzsuche in einer Grossstadt konfrontiert werden zu müssen, wollen wir Gorda in Jaco zurücklassen und via Bus zur Gastfamilie gelangen.



Auf dem Weg zur Strandmetropole legen wir allerdings noch einen Zwischenstopp ein. Ungefähr auf halber Strecke befindet sich der Rio Tarcoles, der von einer Autobahnbrücke überquert wird. Diese Brücke ist im ganzen Land als "Krokodilbrücke" bekannt. Den Gerüchten zu Folge hat ein Mann die Krokodile hier vor einigen Jahren gefüttert und seitdem verweilen sie an Ort und Stelle, auch ohne künstliche Nahrungszufuhr. Wir stellen Gorda ab und steigen aus, um einen Blick von der Brücke zu werfen. Es ist unglaublich. Unter uns befinden sich um die 20 der Riesenechsen, manche schwimmend, andere dösend. Der Zutritt zum Ufer ist Beobachter*innen aus gutem Grund untersagt. Ständig hört man Geschichten von waghalsigen Touris, die als Futter für die Krokis geendet sind, weil sie es nicht haben lassen können. Die Pause vom Fahren heissen wir willkommen und erfreuen uns etwa eine halbe Stunde an den Tieren. Dann setzen wir uns wieder ins Auto, Jaco wartet auf uns.



Nachdem wir endlich angekommen sind, verpflegen wir uns in einer Soda und machen uns auf die Suche nach einem sicheren Ort, um Gorda ein paar Tage stehenzulassen. Schnell stellen wir fest, dass die offiziellen Parkings einen Haufen Geld verlangen und man mit den Wächtern auch nicht auf die hier sonst übliche Weise den Preis verhandeln kann. Unsere nächstbeste Idee ist es, Autovermietungen zu fragen, da diese über Nacht immer einen Security Guard engagieren. Dort werden wir aber ebenfalls abgewiesen. Niemand scheint die Verantwortung für Gorda übernehmen zu wollen. Wir laufen zum nächsten Hotel, in der Hoffnung, dass man uns hier weiterhelfen könne. Vor dem Eingang haben sich ein paar Prostituierte versammelt, die mit den Sicherheitsleuten plaudern. Wir fragen bei der Gruppe nach, ob sie etwas wisse. Einer der Männer schlägt vor, dass wir im Hotel nebenan fragen. Er bewacht nämlich dessen Eingang. Falls wir die Erlaubnis des Chefs erhalten, können wir Gorda entspannt unter seiner Aufsicht lassen. Wir sind uns zwar bewusst, dass das Hotel ein Bordell ist, wollen uns aber trotzdem darüber erkundigen, was für diese Dienstleistung verlangt werden würde. Als wir das Grundstück betreten wollen, kommt es zu einem kleinen Missverständnis mit dem sich im Dienst befindenden Wachmann und wir können ihn gerade noch davon abhalten, Philip anzugreifen. Schnell eilt einer der anderen Männer zur Hilfe und beschwichtigt den Schlägertypen, sodass wir Zutritt erhalten. Der Chef/Zuhälter sitzt gemütlich mit einem Bier an der Hotelbar und ist uns gegenüber äusserst freundlich. Als er erfährt, dass wir aus der Schweiz kommen, plaudert er mit uns über seine bisherigen Ausflüge nach Zürich. Obwohl er sich sehr nett verhält, ist offensichtlich, dass er seine Machtposition verdeutlichen will. Schlussendlich macht er uns aber einen guten Deal und wir vereinbaren, Gorda morgen für ein paar Tage hier stehenzulassen, unter der Bedingung, dass wir sie so hinstellen, dass sie keine Kunden behindert. Wir haben Gorda schon an vielen unterschiedlichen Orten geparkt, in ein Bordell hat sie sich bisher jedoch noch nie verfahren.


Zur Übernachtung legen wir eine kurze Strecke ans Ende des Strandes von Jaco zurück, um nicht im schmuddeligen Zentrum der Stadt schlafen zu müssen. Auch hier, am abgelegensten Ort, den wir gefunden haben, werden wir kurz vor dem Einschlafen von einem deutlich unter Drogeneinfluss stehenden Mann belästigt. Heute werden wir unsere Türen über Nacht schliessen. Als sich der ungeladene Gast wieder entfernt, spüren wir ein kleines Rütteln. Nach kurzer Recherche finden wir heraus, dass es sich um ein Erdbeben handelt, dessen Stärke 5.5 ist und dessen Epizentrum nur elf Kilometer von uns entfernt liegt. Cora macht sich grosse Sorgen wegen einer Tsunamiwelle, da wir direkt am Wasser schlafen möchten. Auf der costaricanischen Website über Erdbeben heisst es aber, dass Jaco über eine Tsunamiwarnanlage verfügt und wir verlassen uns darauf, dass die Sirenen uns rechtzeitig wecken würden.

Nicht die Tsunamialarme, sondern die erdrückende Hitze der aufgehenden Sonne weckt uns. Jetzt wissen wir wieder genau, wieso wir zum Schlafen normalerweise alle Türen offen lassen. Wir flüchten aus dem Backofen direkt ins Meer und machen dann unsere Taschen für den Ausflug nach Alajuela bereit. Nach dem Mittagessen bringen wir Gorda ins Bordell und machen uns auf den Weg zur Busstation.


Alajuela ist mit Heredia und San Jose eine der drei grossen Städte im Zentrum Costa Ricas. Gegen Abend erreichen wir das Haus, in dem Philip vor sieben Jahren ein Jahr gelebt hat. Die Gasteltern, die ihn damals beherbergt haben, sind seit sechs Jahren geschieden und seine Gastmutter Adri lebt nun mit ihrem neuen Partner Jairo und ihrem gemeinsamen, zweijährigen Sohn Lucas im selben Haus. Die Nachbarn sind immer noch die gesamte Familie (Adris zwei Schwestern und ihre Eltern). Wir werden herzlich begrüsst und Coras neu erworbene Spanischkenntnisse werden jetzt auf die finale Probe gestellt. Sie hat sich die Sprache auf dieser Reise ganz ohne Lehrmittel angeeignet und kann dem Gespräch mittlerweile problemlos folgen. Im Zimmer, in dem Philip gelebt hat, türmen sich jetzt Lucas Sachen bis an die Decke. Der Junge hat unendlich viele Spielzeuge, mit denen er sich die Zeit vertreiben könnte. Seine Lieblingsbeschäftigung ist es jedoch, alle Dinge quer durchs Haus zu werfen, während seine arme Mutter hinter ihm her rennt und alles wieder aufhebt. Wir dürfen die nächsten Nächte in seinem Bett übernachten, da der Kleine es bevorzugt, im Bett seiner Eltern zu schlafen. Den verbleibenden Abend verbringen wir damit, uns gegenseitig über die vergangenen Jahre upzudaten und uns unendlich viele Geschichten zu erzählen. Um zwei Uhr morgens verabschieden sich Adri und Jairo, da sie beide am nächsten Tag arbeiten gehen müssen.



Wir hingegen können ausschlafen und machen uns dann mit dem Bus auf ins Zentrum von Alajuela. Auf dem Weg laufen wir noch kurz an der Schule, die Philip damals besucht hat, vorbei. Es hat sich in all dieser Zeit nur wenig verändert und es kommen wieder viele Erinnerungen auf. Der Wächter des Schuleingangs lässt uns zuerst durch das Tor, die Direktorin verweigert uns dann allerdings den Zutritt zum gesamten Gelände. Vom Eingang aus sieht man aber zum Glück schon einen Grossteil und wir verabschieden uns dankend wieder. In Alajuela haben wir einiges zu erledigen. Wir wollen einen Ohrenarzt finden, der Coras Ohr, das nun wieder abgeschwollen ist, richtig säubern kann, einen Second Hand Buchladen durchstöbern und ein zweites Ohrloch für Philip stechen lassen. Der Arzt ist unsere grösste Priorität und wir finden sogar einen, der noch am selben Tag einen Termin hat. In den zwei Stunden, die wir warten müssen, können wir gleich den Rest erledigen. Wir besuchen einen ausgezeichneten Buchladen, der von einer sympathischen, hilfreichen Dame geführt wird. Sie schenkt uns beim Gehen sogar noch ein paar National Geographic Heftchen, weil wir uns so lange und interessiert im Laden aufhalten und mit ihr über Bücher diskutieren. Nun haben wir auf jeden Fall genug Lesematerial für die Wochen ohne Internet auf dem Boot. Hoffentlich werden wir nicht so sehr seekrank, dass wir gar nicht lesen können.

Der Besuch beim Piercer ist kurz und unkompliziert. Philip verlässt das Geschäft glücklich mit einem Ohrloch mehr. Das Säubern des Ohres ist eine sehr schmerzhafte Angelegenheit und Cora muss sich ordentlich auf die Zähne beissen. Der Arzt schafft es aber, eine Menge grosser Schmalzbrocken und abgestorbene Haut herauszusaugen und Cora bemerkt gleich nach dem Eingriff eine Verbesserung. Als Abschluss unseres Ausfluges gehen wir noch in die City Mall, die etwas ausserhalb gelegen ist. Es ist die grösste Mall Zentralamerikas und man findet in ihr jedes beliebige Geschäft. Nach einigem Schlendern holen wir im Foodcourt etwas zu essen und machen uns dann wieder auf den Heimweg.



Am Abend gehen Adri und Jairo zusammen ins Kino. Dies haben sie schon lange geplant und sie entschuldigen sich dafür, dass sie nichts mit uns unternehmen. Für uns spielt das aber keine grosse Rolle und wir gönnen ihnen ihren angeblich ersten gemeinsamen Abend ohne Kind seit der Geburt ihres Sohnes. Lucas bleibt nämlich zu Hause und ist in der Obhut Carolinas, Adris jüngerer Schwester. Sie gesellt sich zu uns und wir bestellen Pizza. Mit einem Auge auf den kleinen Bengel unterhalten wir uns, bis die Eltern von ihrem Film zurück sind. Carolina ist während Philips Austauschjahr an die gleiche Schule wie er gegangen und sie erzählt, was aus einigen ihrer Mitschüler*innen geworden ist.


Adri hat am nächsten Tag ihren Terminkalender freigeräumt, um mit uns einen Ausflug zu unternehmen. Eine Stunde von Alajuela entfernt liegt der Volcan Poas. Wir fahren mit ihrem Auto und haben den kleinen Lucas mit dabei. Oben angekommen, begeben wir uns auf die Aussichtsplattform. Wir haben Glück. Das Wetter ist gut und wir erhaschen einen Blick auf den mit Wasser gefüllten Krater, der zwischen den Wolken hervorblitzt. Anschliessend laufen wir einen der Rundwege ab, der uns durch die anliegenden Nebelwälder führt und die Diversität der Natur veranschaulicht. Auf halbem Weg weigert sich Lucas, weiterzulaufen, also muss Adri ihn von dort an tragen, da er sich von Philip nicht hochheben lässt. Obwohl Adri sehr trainiert ist und regelmässig ins Fitnessstudio geht, ist sie ziemlich geschafft, als wir wieder beim Auto ankommen. Die vielen Stufen und Steigungen sind nicht ohne, vor allem mit einem Kind auf dem Arm. Auf dem Rückweg machen wir in einem hübschen Restaurant Halt, von dem aus man den Wald sehen und vorbeifliegende Kolibris beobachten kann. Wir bestellen lokale Spezialitäten und alles schmeckt ausgezeichnet. Lucas bekommt eine Portion Pommes mit Coca Cola, was so ziemlich seine gesamte Ernährung widerspiegelt. Den Rest des Tages lassen wir ruhig angehen und legen uns etwas aufs Ohr, bevor wir uns zum gemeinsamen Abendessen hinsetzen und mit Jairo und Adri plaudern. Heute verabschieden sich alle etwas früher.




Für den Freitag haben wir tagsüber unser eigenes Programm geplant. Wir wollen ein bisschen durch die Gegend spazieren und dabei einiges erledigen. Damit wir uns die Seemeilen der Atlantiküberquerung anrechnen lassen können, müssen wir einige Dokumente ausfüllen und ein spezifisches Logbuch führen. Unser Segellehrer aus Nidwalden hat uns das Material freundlicherweise per Mail zukommen lassen. Nun suchen wir die nächstgelegene Schreibwarenhandlung auf, um die Sachen dort ausdrucken zu lassen. Ausserdem besorgen wir uns andere nützliche Dinge wie Stifte, Mappen, etc. Danach schlendern wir weiter durchs Viertel und Philip zeigt Cora Orte, an denen er seine Zeit verbracht hat, z. B. den Fussballplatz, ein Pärkchen oder seinen Lieblingsladen. Zurück im Haus entspannen wir uns noch ein bisschen, dann machen wir uns ausgehfertig. Zusammen mit Adri, Jairo, Carolina und ihrem Freund Brian gehen wir in einem Burgerrestaurant essen. Wir geniessen die Gespräche und die Mahlzeit und verbringen einen wunderschönen Abend. Vor dem Einschlafen merkt Cora, dass sie fix und fertig ist. Obwohl sie allen Unterhaltungen gut folgen und auch selber daran teilhaben kann, ist ihr Gehirn sehr gefordert. Sie spricht und hört nun schon seit mehreren Tagen nur spanisch, und zwar ungefiltert. Das ist anstrengender als gedacht, aber auch ein gutes Gefühl. Wie sonst kann man eine Sprache besser lernen?


Am Samstag bricht unser letzter Tag in Alajuela an. Wir essen mit Adri und Jairo zu Mittag, dann verabschieden wir uns vom Rest der Familie. Adri und Jairo bringen uns mit dem Auto zur Busstation, davor wollen sie uns aber noch ein Geschenk machen. Sie nehmen uns mit zu einem Laden, der Klamotten mit verschiedenen für Costa Rica typischen Prints verkauft. Wir dürfen uns beide ein T-Shirt aussuchen. Dann warten sie mit uns auf den Bus. Wir sind sehr gerührt und dankbar über ihre ausserordentliche Gastfreundschaft. Der Abschied fällt schwer, wird aber hoffentlich nicht für immer sein. Auf der Busfahrt haben wir Zeit, um runterzukommen und die nächsten Tage zu planen. Wir sind etwas nervös, weil wir dem Bordellbesitzer nur bis Freitag gezahlt haben, jetzt aber doch erst am Samstag zurückkommen, ohne ihn kontaktiert zu haben. Die Sorge erweist sich später als unbegründet. Gorda erwartet uns unbeschädigt an ihrem Platz. Wir steigen ein und nehmen sie wieder mit, froh, zurück in unserem zu Hause zu sein. Da es schon spät ist, wollen wir heute nicht mehr weiterfahren. Also begeben wir uns an den Strand und schlafen an derselben Stelle wie letztes Mal.

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