Heute geht es wieder an den Strand. Zuerst müssen aber noch ein paar Dinge erledigt werden. Wir wollen einkaufen und bei einem Mechaniker vorbeischauen. Gordas Motor schaltet sich immer öfters aus, sobald Stau herrscht, oder wir im Schritttempo fahren. Deswegen begeben wir uns nach Chinandega, der nächstgrösseren Stadt. Der Mechaniker schraubt ein bisschen an Gorda herum, danach geht es ihr schon besser. Ob das Problem ganz gelöst ist, wird sich noch zeigen. Die Hauptsache ist, dass sie noch fährt. Zum Mittagessen setzen wir uns in eine Soda (Kantine), in der es leckere lokale Gerichte gibt. Frisch gestärkt brechen wir nun endlich zum Surfspot auf.
An den nördlichsten Stränden Nicaraguas gibt es einen Haufen Wellen, die man abchecken kann. Cora, die in jedem neuen Land nach Anfängerspots googelt, hat sich eine Bucht ausgesucht. Auf unserem Weg dorthin nehmen wir die sehr ländliche Umgebung wahr. Hier ist es z. B. keine Seltenheit, eine Büffelkutsche auf der Autobahn überholen zu müssen. Ausserdem sind sehr viele Leute auf Pferden unterwegs.
Nach einiger Zeit kommen wir an. Um den Strand zu begutachten und nach einem potenziellen Schlafplatz Ausschau zu halten, steigen wir aus. Es gibt ein Restaurant, man will uns dort aber nicht unbedingt campen lassen. Wir überlegen, uns einfach ans Ufer zu stellen, sind aber vom Untergrund noch nicht ganz überzeugt. Wie immer, wenn wir an einem neuen Ort ankommen, suchen wir uns eine oder mehrere lokale Personen, um sie nach der Sicherheitslage zu fragen, uns vorzustellen, etc. Weit und breit ist niemand zu sehen. Wir entdecken ein Häuschen mit vielen schönen Muscheln als Deko im Eingang und beschliessen, hier unser Glück zu versuchen. Auf unser Rufen hin kommt eine ältere Frau heraus. Sie sieht europäisch aus und stellt sich uns als Ilse (auf English Elsa) aus Holland vor. Als wir ihr sagen, dass wir aus der Schweiz kommen, wechselt sie von English auf fliessendes Schweizerdeutsch. Sie hat jahrelang in der Schweiz gearbeitet und einen schweizerischen Partner gehabt. Sofort ist sie sehr gesprächig und macht es sich zur Mission, den perfekten Schlafplatz für uns zu finden. Vor ihrem Haus hat sie eine kleine Palappa direkt im Sand und bedeutet uns, Gorda halb darunter zu parken. Geld dafür verlangt sie keines. Ausserdem bietet sie uns an, ihr Haus mitzubenutzen. Grossen Luxus gibt es darin nicht. Elsa hat zwei Glühbirnen, die Strom empfangen, kein fliessendes Wasser, dafür aber einen Brunnen im Garten, dessen Wasser sie zum Spülen des Klos benutzt. Um zu kochen, sammelt sie Holz vom Strand und macht sich ein Feuer auf ihrer Feuerstelle. Ausser Ilse gibt noch weitere Bewohner im Haus. Fünf Katzen und drei Hunde, Lola, Odello und Döttebell.

Nachdem wir uns einquartiert haben, macht sich Philip sogleich auf ins Wasser. Die Wellen sehen top aus und die Session ist ein Erfolg. Cora ist zu müde und setzt sich deshalb mit einem Buch vor den Van. Als Philip zurückkommt, ist Cora schon in ein Gespräch verwickelt worden und schlürft genüsslich ein Bier. Daniel, ein dreissigjähriger Engländer, der sich 2019 ein Grundstück in der Bucht gekauft hat, ist vorbeigekommen, und hat Elsa und Cora das gekühlte Getränk offeriert. Wir verbringen den restlichen Abend zu viert und haben eine tolle Zeit.

Die Gespräche mit Ilse werden in den nächsten Tagen immer intensiver und erst jetzt wird uns das gesamte Ausmass ihrer Geschichte bewusst. Schon vor vielen Jahren hat sie ihr Stück Land gekauft. Um den Bau des Häuschens zu finanzieren, hat sie immer einige Monate als OP-Pflegerin in der Schweiz gearbeitet, um danach wieder für längere Zeit nach Nicaragua zu fliegen. Schnell hat sich aber gezeigt, dass das mit dem Hausbau nicht so einfach funktioniert, wenn man nicht vor Ort ist. Elsa hat teilweise den falschen Leuten vertraut und ist beklaut oder verarscht worden. Obwohl sie Geld aus der Schweiz überwiesen hat, wurden die gewünschten Arbeiten nicht erledigt. Also hat sie 2012 beschlossen, ihr Leben in der Schweiz vorläufig aufzugeben und erstmal auf unbestimmte Zeit in Nicaragua zu bleiben. Anfangs hat das gut geklappt, sie hatte ja ihre Ersparnisse. Irgendwann aber hat Ilse ihr gesamtes Geld aufgebraucht.
Zu diesem Zeitpunkt ist sie schon mehrere Jahre in Nicaragua - illegal, denn sie hat sich nie um eine Verlängerung ihres Visums gekümmert. Ausreisen, um in der Schweiz wieder etwas Geld zu verdienen, kann sie nicht. Die Busse, die sie für ihren Overstay bekommen würde, kann sie nicht bezahlen und auch ansonsten würde sie Probleme mit den Behörden bekommen. Deswegen lebt sie seitdem von der Hand in den Mund. Geld, um ihr Grundstück auf Vordermann zu halten, hat sie keins mehr. Wofür sie früher Miete bekommen hätte, kann man heute niemandem mehr vorzeigen. Wir bemerken nun, wie schlecht es wirklich um sie steht. Sie ernährt sich schon seit Tagen nur von Reis, manchmal nur eine Portion pro Tag. Auch ihre Tiere sind komplett ausgehungert und haben Fellkrankheiten. Obwohl Elsa ihnen die Hälfte ihres Essens abgibt (Tierfutter besitzt sie keines), kann man sich in ihrem Haus nicht hinsetzen und essen, ohne von fast allen Tieren gleichzeitig belagert zu werden. Statt Trinkwasser trinkt Ilse Wasser aus dem Wasserhahn im Garten des Nachbars, der gerade nicht da ist. Wenn wir abends kochen, kochen wir für sie mit. Auch Daniel kommt jeden Abend vorbei und leistet uns, aber vor allem Elsa, Gesellschaft. Er spendiert ihr meistens ein Bier und Zigaretten und schenkt ihr all seine leeren Flaschen, auf die man Pfand bekommt. Wenn er irgendwelche Nahrungsmittel übrig hat, bringt er sie vorbei. So kann Elsa sich über Wasser halten, wir fragen uns aber, wie das auf Dauer funktioniert.
Daniel ist für uns eine sehr interessante Persönlichkeit. Wir möchten unbedingt sein Haus abchecken. Eines Morgens laufen wir, gemeinsam mit Elsa, los, um ihn zu besuchen. Sein Land liegt nicht direkt am Strand, aber nur fünf Minuten Fussweg entfernt. Zwischen Pferdekoppeln steht sein kleines Holz-Häuschen mit zwei Etagen. Was beeindruckend ist: Er hat es komplett alleine gebaut. Acht Wochen lang hat er täglich daran gearbeitet, selber das Holz zugeschnitten und montiert, sodass zum Schluss ein richtiges Heim entstanden ist. Man sieht zwar an einigen Stellen, dass es etwas freestylemässig zusammengeschraubt ist, das verleiht dem Ganzen allerdings einen gewissen Charme. Wir sind begeistert und bedanken uns für die Führung, danach begeben wir uns zurück zu Gorda.
Die letzten Tage waren surftechnisch äusserst erfolgreich, vor allem für Cora. Sie macht jedes Mal Fortschritte und gefühlt ist jede Session die beste ihres Lebens. Der Spot gefällt uns gut, obwohl oft Surfschulen mit ziemlich vielen Schüler*innen das Line-up verstopfen.

Irgendwann kommt der Tag, an dem Daniel zurück nach England fliegt, und auch wir wollen einen Tag später weiterziehen. Wir verabschieden uns von Daniel, der Elsa sein restliches Kleingeld gibt, und wünschen ihm alles Gute. Für Elsa wirkt der Abschied besonders schwer und auch wir fühlen uns ein bisschen schlecht, sie ab morgen ganz alleine zu lassen. Sie scheint sich sehr über die Gesellschaft in den letzten Tagen gefreut zu haben. Bevor wir auch ihr und ihren vielen Hunden und Katzen tschüsssagen, treffen wir eine Entscheidung. Wir räumen unsere gesamte Vorratsschublade aus und schenken die Nahrungsmittel Elsa. Es ist nicht unglaublich viel, aber dennoch mehr, als sie in letzter Zeit je gehabt hat. Sie freut sich sehr, auch wenn sie es vielleicht nicht gross zeigen möchte. Wir sehen es als die mindeste Gegenleistung, die wir der Frau erbringen können, die uns so freundlich in ihr zu Hause aufgenommen und alles mit uns geteilt hat, obwohl sie selbst fast nichts mehr besitzt.

Als wir schon längst auf der Weiterfahrt sind, merken wir, dass Elsa zwei Kokosnüsse aus ihrem Garten in unser Auto geschmuggelt hat.
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